Glücksspielatlas 2023: Probleme bei der Darstellung von Glücksspielstörungen

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Geschrieben von:

Marius

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Im Oktober 2024 sorgte der sogenannte „Glücksspielatlas Deutschland 2023“ für Aufsehen in deutschen Medien. Die Unstatistik des Monats bezieht sich genau auf diesen Atlas und kritisiert den unkritischen Umgang vieler Medien, die Zahlen zur Glücksspielstörung und zum problematischen Glücksspielverhalten verbreiten.

Basierend auf einer Meldung der Deutschen Presse-Agentur (dpa) berichteten große Portale wie Tagesschau.de und Zeit.de, dass etwa 1,3 Millionen Menschen in Deutschland an einer Glücksspielstörung leiden, und weitere drei Millionen hätten ein problematisches Glücksspielverhalten. Doch wie verlässlich sind diese Zahlen wirklich?

Ursprünge und methodische Veränderungen beim Glücksspiel-Survey

Die Daten, auf denen der Glücksspielatlas basiert, stammen aus einer Studie der Universität Bremen, bei der etwa 12.000 Menschen zu ihrem Glücksspielverhalten befragt wurden. Diese Erhebung, als „Glücksspiel-Survey“ bekannt, wurde bis 2019 von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA) durchgeführt, bevor die Universität Bremen die Verantwortung übernahm.

Mit diesem Wechsel änderten sich jedoch auch die Methodiken, und genau diese Änderungen führten zu einem drastischen Anstieg in der geschätzten Anzahl der Menschen mit Glücksspielproblemen. Diese methodischen Anpassungen, die zu den stark erhöhten Zahlen führten, werfen nun Fragen zur Validität der Ergebnisse auf.

Seitdem die Bremer Forscher das Zepter übernommen haben, fanden nicht nur Änderungen in den Befragungsinhalten statt, sondern auch in der Art der Datenerhebung. Während die BzgA eine rein telefonische Befragung nutzte, verwendet die Universität Bremen heute eine Kombination aus Telefon- und Online-Interviews. Diese Veränderung könnte einen wesentlichen Einfluss auf die Ergebnisse haben – und wird dennoch kaum thematisiert.

Unterschiede zwischen telefonischer und Online-Befragung

Eine der wichtigsten Erkenntnisse aus dem aktuellen Glücksspiel-Survey ist der enorme Unterschied zwischen den Ergebnissen der Telefon- und der Online-Befragungen. So gaben in der telefonischen Befragung 0,4 Prozent der Befragten an, an einer leichten, mittleren oder schweren Glücksspielstörung zu leiden. Dieser Anteil springt bei den online Befragten jedoch auf erstaunliche 6,2 Prozent.

Ein so signifikanter Unterschied wirft Fragen darüber auf, ob die Methode der Datenerhebung selbst zu einer Verzerrung der Ergebnisse führen könnte. Diese Diskrepanz tritt nicht nur bei Glücksspielstörungen auf, sondern auch bei anderen Merkmalen wie riskantem Alkoholkonsum und psychischen Belastungen.

In der Online-Befragung wurden dabei sogar drei verschiedene Panel-Erhebungen durchgeführt, die möglicherweise unterschiedliche Zielgruppen angesprochen haben. Ein ähnliches Phänomen wurde im irischen Glücksspiel-Survey beobachtet, wo die Anteile der Befragten mit Glücksspielproblemen in den Online-Panels zwischen 1,7 und 5,9 Prozent variierten. Eine genauere Analyse der Stichproben und Zielgruppen wäre daher wünschenswert, um die Zahlen besser einordnen zu können.

Die Problematik der „Repräsentativität“ in Umfragen

Ein zentrales Problem bei Online-Befragungen ist das Thema Repräsentativität. Online-Befragte unterscheiden sich oft in entscheidenden Merkmalen von der Durchschnittsbevölkerung. Auch telefonisch Befragte sind nicht zwangsläufig repräsentativ, da nicht alle Menschen telefonisch erreichbar oder bereit sind, an solchen Befragungen teilzunehmen.

Wenn der Glücksspiel-Survey von der Annahme ausgeht, dass die Antwortenden einen Querschnitt der Gesamtbevölkerung darstellen, könnten selektive Verzerrungen entstehen. So werden möglicherweise bestimmte soziale Gruppen unter- oder überrepräsentiert, und das Risiko einer verzerrten Datenerhebung steigt.

Es wäre jedoch zu einfach, zu behaupten, dass die „Wahrheit in der Mitte“ liegt. Wie der berühmte Witz sagt, könnte ein Jäger, der einmal links und einmal rechts vorbeischießt, behaupten, dass er „im Mittel“ getroffen hat – doch das ist für das Ergebnis irrelevant. Ähnlich könnte auch der Glücksspiel-Survey, trotz seiner umfangreichen Befragung, danebenliegen, wenn keine ausreichenden Maßnahmen zur Sicherstellung der Repräsentativität getroffen werden.

Das Risiko durch hohe „Nonresponse“-Quoten

Ein weiteres ernstzunehmendes Problem des Glücksspiel-Surveys ist die hohe Nonresponse-Quote. Mehr als 80 Prozent der Befragten haben sich nicht an der Erhebung beteiligt. Ein solcher „Nonresponse“ stellt ein erhebliches Risiko für die Validität der Daten dar. Verzerrungen aufgrund von Nonresponse können zu falschen Schlüssen führen, da die Ergebnisse möglicherweise nicht repräsentativ für die gesamte Bevölkerung sind.

In wissenschaftlichen Fachkreisen wird dringend empfohlen, die Auswirkungen von Nonresponse zu kontrollieren und zu bewerten. Laut einer kürzlich veröffentlichten Übersichtsarbeit im renommierten Fachjournal „The Lancet Public Health“ gehört die Kontrolle des Nonresponse zu den wichtigsten Kriterien für die Qualität einer Erhebung. Auch wenn der Glücksspiel-Survey in dieser Studie gut bewertet wurde, ist es bemerkenswert, dass die potenziellen Auswirkungen des Nonresponse nicht ausreichend analysiert wurden.

Das britische Pendant des Glücksspiel-Surveys steht vor ähnlichen Problemen. Eine offizielle Evaluation kam zu dem Schluss, dass die Ergebnisse als „experimentell“ betrachtet werden sollten und nur mit Vorsicht zu interpretieren seien. In Deutschland scheint es jedoch bisher keine ähnliche kritische Prüfung der Daten zu geben, weder in der Politik noch in den Medien.

Fazit: Fachliche und statistische Kompetenz notwendig für Politik und Berichterstattung

Die Ergebnisse des Glücksspiel-Surveys und ihre mediale Berichterstattung verdeutlichen ein grundlegendes Problem: Es fehlt sowohl in der Politik als auch in den Medien oft das Bewusstsein dafür, wie komplex die Erhebung repräsentativer Daten ist.

Eine große Stichprobe allein garantiert keine korrekten oder repräsentativen Ergebnisse. Werden diese Studien jedoch zur Grundlage politischer Entscheidungen gemacht, ist eine sorgfältige Prüfung der methodischen Qualität unverzichtbar.

Eine solche Prüfung erfordert Expertise im Bereich der sogenannten Survey-Statistik. Die deutsche Politik sollte daher nicht nur auf die Fachexpertise in Bereichen wie der Suchtforschung setzen, sondern auch sicherstellen, dass die statistische Kompetenz bei der Erstellung und Auswertung der Studien gewährleistet ist.

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