Der „Glücksspielatlas Deutschland 2023“ hat in der Berichterstattung zahlreicher Medien große Beachtung gefunden. Laut dieser Meldung leiden etwa 1,3 Millionen Menschen in Deutschland an einer „Glücksspielstörung“, und weitere drei Millionen Menschen zeigen problematisches Glücksspielverhalten. Doch hinter diesen Zahlen verbergen sich methodische Herausforderungen und mögliche Verzerrungen, die in der öffentlichen Diskussion wenig Beachtung finden.
Herkunft der Daten: Der Glücksspiel-Survey der Universität Bremen
Die im Glücksspielatlas präsentierten Daten stammen aus einer Studie der Universität Bremen, dem sogenannten „Glücksspiel-Survey“. Dieser Survey, eine Erhebung des Glücksspielverhaltens in Deutschland, wird alle zwei Jahre durchgeführt und wurde bis 2019 von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) in Auftrag gegeben.
Seit der Übernahme durch die Universität Bremen scheinen die Zahlen für problematisches Glücksspielverhalten deutlich gestiegen zu sein. Dieser Anstieg wirft Fragen über die Methodik und mögliche Unterschiede in der Durchführung auf.
Methodische Änderungen und ihre Auswirkungen auf die Ergebnisse
Ein entscheidender Punkt, der selten thematisiert wird, ist die Bedeutung der Methodik bei der Erhebung solcher sensiblen Daten. Nach dem Wechsel von der BZgA zur Universität Bremen gab es nicht nur einen Wechsel der Auftragnehmer, sondern auch Anpassungen in den Fragebögen und der Befragungsmethode.
Während die BZgA-Befragung telefonisch durchgeführt wurde, kombiniert die Universität Bremen nun telefonische und Online-Befragungen. Dieser Methodenmix bringt unterschiedliche Ergebnisse hervor: In der telefonischen Befragung wird bei rund 0,4 Prozent der Befragten eine leichte, mittlere oder schwere Glücksspielstörung gemäß den Diagnosekriterien des DSM-V festgestellt.
In der Online-Befragung hingegen steigt dieser Wert auf 6,2 Prozent. Das deutliche Auseinanderklaffen dieser Zahlen zeigt, wie stark die Methode die Ergebnisse beeinflussen kann. Zudem lassen auch andere Erhebungsmerkmale wie Alkoholkonsum oder psychische Belastungen Differenzen erkennen, wenn auch weniger ausgeprägt.
Die Herausforderungen der Repräsentativität: Telefon- versus Online-Befragungen
Ein häufiges Problem bei Online- und Telefonbefragungen ist die Frage der Repräsentativität. Online-Befragungen erreichen oft nicht die Durchschnittsbevölkerung, da sich die Zusammensetzung der Teilnehmer stark von der Gesamtbevölkerung unterscheiden kann.
Ebenso besteht bei telefonischen Umfragen das Risiko von Selektionsfehlern. So könnten Personen mit starkem Glücksspielverhalten beispielsweise eher dazu tendieren, eine Online-Befragung auszufüllen, während solche mit weniger Interesse an Glücksspielen oder einer geringeren Risikobereitschaft möglicherweise seltener teilnehmen.
Ein irisches Beispiel verdeutlicht diese Herausforderung: In einem Glücksspiel-Survey in Irland, der ebenfalls verschiedene Online-Panels zur Befragung nutzte, variierte der Anteil der Personen mit Glücksspielstörungen je nach Online-Panel signifikant zwischen 1,7 und 5,9 Prozent. Dies zeigt, dass bereits unterschiedliche Online-Umfrageplattformen zu erheblichen Schwankungen der Ergebnisse führen können.
Der Einfluss von Nonresponse: Das Problem der hohen Ausfallquote
Ein weiteres methodisches Problem des Glücksspiel-Surveys ist die sogenannte Nonresponse-Rate, also der Anteil der Menschen, die nicht auf die Befragung reagieren. Im Fall des Glücksspiel-Surveys 2023 liegt die Nonresponse-Quote bei über 80 Prozent.
Eine so hohe Ausfallquote birgt das Risiko, dass die Ergebnisse nicht repräsentativ sind und sich Verzerrungen einschleichen. Wenn nur ein geringer Teil der ursprünglich angesprochenen Personen an einer Befragung teilnimmt, besteht die Gefahr, dass die Ergebnisse vor allem die Meinungen und Verhaltensweisen jener Gruppe widerspiegeln, die bereit ist, an der Befragung teilzunehmen – während andere Perspektiven unberücksichtigt bleiben.
Seriöse wissenschaftliche Zeitschriften und Studien fordern daher in der Regel, dass der Umgang mit Nonresponse dokumentiert und mögliche Auswirkungen analysiert werden. In einer aktuellen Übersichtsarbeit zur Glücksspiel-Prävalenzforschung, die im Fachjournal The Lancet Public Health veröffentlicht wurde, wird genau dieser Punkt hervorgehoben.
Interessanterweise wurde der Glücksspiel-Survey der Universität Bremen in dieser Übersichtsarbeit als methodisch gut bewertet, obwohl der Umgang mit Nonresponse in der Studie nicht berücksichtigt wurde. Diese Bewertung mag erstaunen, da Nonresponse erhebliche Auswirkungen auf die Aussagekraft der Ergebnisse haben kann.
Fehlende kritische Bewertung in Deutschland
Anders als in Großbritannien fehlt in Deutschland bislang eine systematische und kritische Bewertung der methodischen Grundlagen solcher Studien. Eine offizielle Evaluation des britischen Glücksspiel-Surveys kam beispielsweise zu dem Schluss, dass dessen Ergebnisse nur als „experimentell“ eingestuft und mit großer Vorsicht interpretiert werden sollten. Grund dafür waren methodische Unsicherheiten, die auch die Repräsentativität infrage stellten.
Eine solche kritische Einschätzung findet sich in Deutschland derzeit kaum. Die Zahlen des Glücksspiel-Surveys werden weitgehend unreflektiert übernommen und fließen direkt in politische Diskussionen ein. So fehlt es an einer offenen Auseinandersetzung mit der Frage, wie verlässlich die Zahlen sind und inwiefern sie tatsächlich die Realität der Glücksspielproblematik widerspiegeln.
Die Rolle der Medien: Fehlende Differenzierung und Analyse
In der Berichterstattung über den Glücksspielatlas zeigt sich eine weitere Herausforderung: Der oft unkritische Umgang der Medien mit wissenschaftlichen Zahlen. Die Präsentation der Zahlen ohne Einordnung oder kritische Reflexion führt dazu, dass in der Öffentlichkeit ein Bild entsteht, das möglicherweise nicht der Realität entspricht.
Auch wenn dpa und andere Agenturen die Zahlen als Neuigkeit verbreiten, wäre es wünschenswert, wenn größere Medien eine differenzierte Analyse liefern und die methodischen Unsicherheiten berücksichtigen würden. Die aktuellen Daten zum problematischen Glücksspielverhalten in Deutschland sollten nicht ohne Kontext wiedergegeben werden.
Es ist wichtig, dass die Öffentlichkeit versteht, dass sich solche Zahlen je nach Erhebungsmethode erheblich unterscheiden können. Die Tatsache, dass bei Online-Befragungen ein deutlich höherer Anteil an Glücksspielstörungen festgestellt wird als bei telefonischen Befragungen, weist auf methodische Verzerrungen hin, die die Interpretation der Ergebnisse beeinflussen können.
Fazit: Statistische und methodische Expertise als Grundlage für evidenzbasierte Politik
Die aktuelle Diskussion um den Glücksspielatlas Deutschland 2023 verdeutlicht, wie wichtig statistische und methodische Expertise bei der Bewertung von Studien ist. Ein unkritischer Umgang mit Erhebungen und Befragungsergebnissen kann leicht zu einer verzerrten Darstellung führen, die politischen Entscheidungen zugrunde gelegt wird. Die Gewinnung repräsentativer und verlässlicher Daten erfordert ein hohes Maß an methodischem Know-how, das in vielen Fällen nur spezialisierte Experten auf dem Gebiet der Statistik und der empirischen Sozialforschung haben.
Wenn politische Entscheidungsträger Studien als Grundlage für Gesetze und Maßnahmen heranziehen, sollten sie sicherstellen, dass neben der inhaltlichen auch die statistische Expertise gewährleistet ist. Nur so können fundierte Entscheidungen getroffen werden, die auf validen und repräsentativen Daten basieren. Medien und Politik sind in der Verantwortung, Studien kritisch zu hinterfragen und deren Ergebnisse mit Bedacht zu kommunizieren.
Eine evidenzbasierte Politik im Bereich Glücksspiel ist dringend notwendig, doch sie kann nur auf Basis belastbarer Daten funktionieren. Der Glücksspielatlas Deutschland 2023 zeigt exemplarisch, wie methodische Details und eine kritische Auseinandersetzung mit der Studiengestaltung die Wahrnehmung und das Verständnis von Glücksspielproblemen in der Gesellschaft nachhaltig beeinflussen können.